Thomas Niemeyer: Nach Diktatur verreist - Jens Kloppmann und die Wiederholung der Geschichte
Historische Momente als Bild werden oft zu mächtigen Metaphern. Aus Sicht der Geschichtswissenschaft bleibt der Gedanke des bedeutenden Moments aber weitgehend substanzlos, denn Geschichte lässt sich nur als laufender Prozess sinnvoll erfassen, in welchem sich Ereignisse und Personen vielfältig miteinander verwickeln. Wenn dennoch einzelnen, als herausragend empfundenen Aspekten in diesem Geflecht Bedeutung zukommt, dann vor allem in ihrer symbolisch verwertbaren Wirkung. Die seit Jahrhunderten am literarischen Drama und an der abendländischen Malerei geschulte Wahrnehmung der bürgerlichen Gesellschaft ist gewohnt, Erzählungen in Bezug auf ihre Höhepunkte zu lesen und zu verstehen. Solche symbolischen Momente im kollektiven Gedächtnis machen Geschichte nicht nur anschaulich; sie bestimmen in hohem Maße auch die Beurteilung geschichtlicher Entwicklungen.
Jens Kloppmann hat sich 2012 in der Videoinstallation „Die Prosa der Ereignisse“ historischer Zuspitzungen der vergangenen Jahrzehnte angenommen, und er hält darin vor allem der exzessiven Berichterstattung durch die Massenmedien ein radikal reduziertes Bildprogramm entgegen. Die sechs verschiedenen Einstellungen konzentrieren sich jeweils auf einzelne Hauptakteure dramatischer Entwicklungen, ohne jedoch einen direkten Bericht dessen zu liefen, was sich wirklich zugetragen hat. So sieht man in einer der Sequenzen die Rückenfigur eines Mannes, der in einem Park nur zwei Schritte geht, bevor sich die Bewegung wiederholt und er dadurch gleichsam auf der Stelle tritt. Die Aufzeichnung, aus der diese nur wenige Sekunden dauernde Bildschleife entnommen wurde, entstand am 11. September 2001 im Park des Weißen Hauses: US-Präsident George W. Bush kehrt wenige Stunden nach den Flugzeuganschlägen in New York und Washington von einer Reise zurück. Werimmer damals zugesehen hat, mochte sich fragen, was der mächtigste Mann der Welt, der da just im Augenblick einer kurzen weltweiten Schreckstarre und banger Ungewissheit alleine über den Rasen geht, wohl als nächstes tun würde.
Formal nimmt das Werk die Metapher des historischen Moments streng wörtlich: Der Lauf der Dinge wird durch die sich permanent wiederholende Sequenz angehalten und bleibt, wie seine Hauptfigur, scheinbar endlos in seiner sehr kurzen Gegenwart gefangen. Durch diesen vergleichsweise einfachen Kunstgriff, der eine Art Mantra der Ratlosigkeit erzeugt, gelingt es Jens Kloppmann, die weit verbreitete und mächtige Doktrin der Zeitenwende ad absurdum zu führen. Der Schlüssel liegt dabei in der Verwendung des fließenden Mediums Video, um in eine Bildwelt einzubrechen, die eigentlich seit dem 19. Jahrhundert eine Domäne der Fotografie ist.
Das noch vergleichsweise junge Zeitalter der Reportage hat längst eine unüberschaubare Fülle von historischen Momenten in Form publizierter Fotos hervorgebracht, die nahezu jeden Bereich des gesellschaftlichen Erinnerns speisen, oft genug mit unklaren Grenzen zum persönlich Erlebten. Ein Beispiel: Wohl diemeisten Menschen über 50 würden heute ohne weiteres behaupten, sich an die erste Mondlandung zu erinnern. Nun waren erwiesenermaßen höchstens ein Dutzend tatsächlich dort oben, aber es wäre zu einfach, hier bloß eine sprachliche Ungenauigkeit zu attestieren. Die tiefe Überzeugung, durch jedwedes Foto, egal wo, direkt auf jemanden oder etwas zu blicken, ist eine Grundkonstante des Mediums. Und es sind gerade jene Foto-Ikonen, in denen Geschichte sprichwörtlich zu
Augenblicken gerinnt. Dort hat die Welt in einer permanenten Rückkopplung Anteil an sich selbst – als Objekt und Augenzeuge zugleich. So erscheint bis heute der berühmte Tagebucheintrag Franz Kafkas vom 2. August 1914 symptomatisch für die Verschmelzung von privatem und globalem Erfahrungsraum: „Deutschland hat
Rußland den Krieg erklärt. – Nachmittag Schwimmschule.“2
Die Macht der Fotografie, aus einem Ereignis einen historischen Moment oder gar eine Zeitenwende zu erschaffen, liegt in ihrer Eigenschaft, ein Stück Wirklichkeit sowohl zeitlich als auch räumlich dauerhaft auszuschneiden. „Alles, was sich innerhalb des Rahmens abspielt, stirbt vollständig, sobald es diesen Rahmenverlässt.“3 So beschreibt Roland Barthes jene fotografische Isolierung und Erstarrung, in denen sich das Medium auch klar vom Film unterscheidet. Indem das bewegte Bild ein „blindes Feld“ (Barthes) eröffnet, durch welches ein persönliches Eindringen in das Geschehen möglich wird, erlaubt es eine imaginäre Fortsetzung des Gesehenen über den Rahmen der Einstellung hinaus. Die kurzen Videosequenzen von „Die Prosa der Ereignisse“ beziehen eine merkwürdige Zwischenstellung zwischen dem hermetisch abgeschlossenen, ikonischen Bild und dem gefilmten Bericht. Sie liefern weder Informationen, noch überwältigen sie. Stattdessen erschließt sich auf lakonische und hintersinnige Weise ein Raum für eine aktive Reflexion des eigenen Erinnerns.
Das Politische erwächst in Jens Kloppmanns Kunst aus einem für den Künstler schon seit langer Zeit zentralen Thema, dem Erinnern. Als Funktion des menschlichen Gedächtnisses ist das Erinnern kein neutral archivierender Vorgang,
sondern vielmehr eine aktiv gestaltende Haltung – eine Projektion gegenwärtiger Urteile, Bedürfnisse und Ängste auf Vergangenes. Insofern stehen das Erinnern und die Geschichtsschreibung unter ganz ähnlichen Vorzeichen. Kloppmann zieht künstlerisch daraus die Konsequenz, sich vor allem mit dem produktiven Gebrauch bereits existierender, gerade auch außerhalb der Kunst entstandener Bilder auseinanderzusetzen. Er misstraut zutiefst jedweden scheinbar feststehenden Bedeutungen, doch er arbeitet nicht einfach an Neuinterpretationen oder der
Aufdeckung von inhaltlichen Widersprüchen, sondern er verändert lustvoll die Funktionen von Bildern, um ihnen einfach noch weitere Perspektiven zu geben.
Sehr anschaulich wird dies auch in der 2002 entstandenen Serie von 13 Fotomontagen mit dem Titel „Im fotografischen Exil – Rache für Trotzki“. Das Werk bezieht sich auf den vermutlich ersten Fall einer Damnatio Memoriae des Medienzeitalters. Bekanntermaßen setzte man unter Stalin alles daran, den ab 1929 im Exil lebenden Leo Trotzki aus allen Dokumenten und mithin komplett aus der sowjetischen Geschichte zu entfernen. Doch es kam, wie es kommen musste: Dem Versuch der Auslöschung war am Ende kein wirklicher Erfolg beschieden, denn niemand besitzt die volle Macht über ein sich global ausdehnendes Informationsnetz.
Berühmt wurde vor allem jene Retusche, die Trotzki von den Stufen der Rednerbühne Lenins in Moskau am 5. Mai 1920 verschwinden ließ. „Im fotografischen Exil“ kehrt auf wunderbar ironische Weise den Spieß um und gibt dem verstoßenen Revolutionär neue Heimat in verschiedenen fotografischhistorischen Kontexten, welche zum Teil sogar deutlich nach Trotzkis Lebenszeit liegen. Dass es aber hier nicht einfach um die Entlarvung oder Kritik der
fotografischen Lüge geht, zeigt ja schon die Wahl der Mittel. Vor allem sollte man nicht vergessen, dass gerade auch die öffentliche Empörung des aufgeklärten demokratischen Westens über den betrügerischen Medienmissbrauch durch
totalitäre Regime selbst nicht minder ein Medienereignis ist. Genau hier trifft „Im fotografischen Exil“ einen Nerv des Internetzeitalters, das die Frage der Wahrheit nicht mehr nur an die Authentizität der Quellen knüpft, sonder vielmehr nach dem Modus der Aneignung durch die Nutzer fragt.
Angenommen, Grigori Petrowitsch Goldstein hätte während Lenins Rede noch eine Reihe weiterer Aufnahmen gemacht: Es wäre dann ja möglich, dass Trotzki sich tatsächlich irgendwann von der Bühne entfernt hätte. Ein dem retuschierten vergleichbares, jedoch authentisches Foto ist also grundsätzlich denkbar. Die Zensoren hätten folglich in diesem Fall nicht retuschieren, sondern bloß auswählen müssen. Aus heutiger Sicht würde sich dennoch nichts an der eigentlichen Wahrheit des Bildes ändern, nämlich am Kontext, in dem das Foto gebraucht wurde. Doch die entlarvte Retusche hat uns, als Zugabe sozusagen, einen großartigen demonstrativen Gestus der sowjetischen Führung hinterlassen, eine Bestätigung ihrer legendären Skrupellosigkeit – auch einer visuellen. Und genau das ist der
Realitätsbezug der Serie „Im fotografischen Exil“. Für sie ist die Klärung der Frage, ob Trotzki in Moskau nun dabei war, oder nicht, völlig ohne Belang. Die Realität, auf der sie aufbaut, ist die Popularität, die Trotzki im Westen gerade durch Stalins Zensur und Verbannung erlangt hatte. Kurz: Trotzki bekommt Sympathien, weil Stalin verhasst ist. So rollt jede Gegenwart Geschichte auf ihre eigene Weise wieder neu auf.
Eines der Bilder schließt sogar einen historischen Kreis: Trotzki steht beim Augustputsch 1991 an der Seite Boris Jelzins in Moskau zur Verteidigung der Regierung gegen die konservativen Hardliner der Kommunistischen Partei, die
Gorbatschow kurzzeitig entmachtet haben. Formal geht der Künstler wieder zurück zum Start, denn die hier einmontierte Figur Trotzkis stammt just aus einem jener Fotos vom Mai 1920. Aber auch inhaltlich, in einem historischen Sinne, findet da etwas zusammen. Bereits mit dem gescheiterten Augustputsch ging die Macht de
facto an Jelzin über, und noch im selben Jahr wurden sowohl KPdSU als auch die Sowjetunion aufgelöst. In gewisser Weise rührt es zu sehen, wie derjenige, der einst mit seinen eigenen revolutionären Zielen gescheitert ist, hier nun am Ende des von ihm selbst mit gegründeten Staates an der Seite der Erneuerer zurückkehren kann. Diese Bilder gründen sich also ganz selbstverständlich auf einen Assoziationsspielraum, den auch wir als Betrachter aus der eigenen Vorstellung von der historischen Person gewinnen müssen. Dann aber dürfen wir uns zum Beispiel
auch darüber freuen, wie der Bolschewik hier seinen späten Frieden mit den einstigen Hauptgegnern, dem Adel und dem Klerus macht. Gleichzeitig sollte bedacht werden, dass es heute der Queen und dem Papst bezüglich der Medien im Grunde auch nicht viel besser geht, als dereinst Trotzki. Das Bild, das die Öffentlichkeit von ihnen und ihrer gesellschaftliche Rolle hat, ist in gleichem Maße Inszenierung und Projektion – mit dem wichtigen Unterschied allerdings, dass hier keine finstere Monopolmacht am bildnerischen Werk ist, sondern die komplexe, nicht weniger umfassende Struktur eines weltweiten Mediennetzes.
Vom Sonderfall der historischen Zensur noch einmal zurück zu den allgemein zugänglichen fotografischen Ikonen. Eine dritte Werkreihe Jens Kloppmanns wendet sich auf ganz eigene Weise diesem nach wie vorzentralen Baustein des kollektiven Gedächtnisses zu. Seit 2002 entsteht ein umfassender Zyklus kleiner figürlicher Holzsilhouetten, deren Präsentationsform an den jeweiligen Ausstellungsraum angepasst wird, mal als Fries, mal als Ornament. SämtlicheFiguren, die meist einzeln und manchmal auch in kleinen Gruppen auftreten, entstammen populären Fotomotiven aus sehr verschiedenen publizistischen Bereichen, vom journalistischen Bild über die Werbung bis zu Plattencovern. Die aus dem Bildkontext freigestellten und auf ihren Umriss reduzierten Figuren erinnern an ein Ratespiel, indem sie bei jedem Betrachter zunächst einmal das individuelle Gedächtnis herausfordern. Bei diesem Spiel werden Bilder in immer größeren Ausschnitten gezeigt, bis ein Teilnehmer schließlich das gesamte Motiv errät. In diesem Fall verbirgt sich hinter dem Spiel eine auf die Wahrnehmung bezogene Frage: Wie sehr lässt sich das Fotografische reduzieren, bevor es ganz verschwindet? Fotografien haben eine erstaunlich große Anpassungsfähigkeit an die jeweilige Form, in der sie erscheinen. Vom Negativ über den Originalabzug bis hin zu Rasterdrucken auf Zeitungspapier – was immer der Fotografie auf dem Weg von Reproduktion und Publikation widerfährt, sie bleibt immer Fotografie und damit der unmittelbare Blick auf das, was sich einmal vor der Kamera befunden hat. Selbst das auf Millionen T-Shirts verbreitete Konterfei Che Guevaras ist noch immer als Fotografie zu erkennen. So wird jenseits des Ratespiels schnell spürbar, wie sehr die Fotografie die Wahrnehmung aller Lebensbereiche durchdringt und beeinflusst.
Die von Jens Kloppmann aus den autobiographischen Tiefen des schulischen Werkunterrichts wiedererweckte Technik der Laubsägearbeit erscheint schon für sich genommen als kleines Kuriosum (ähnlich wie der Gebrauch einer Melodika in der Popmusik). Im Zusammenhang mit einer ausgesprochen medienbezogenen Thematik erhält sie darüber hinaus einen anarchistischen Charakter. Doch auch darin steckt die für den Künstler sehr typische Arbeitsweise, Dinge oder Handlungen ganz wörtlich zu nehmen. Peter Fischli und David Weiss haben einmal ganz
unschuldig gefragt: „Was geschieht mit Fernsehsendungen, die ich nicht gesehen habe?“4 Mit Fernsehsendungen ist es wie mit der Fotografie: Als öffentliche Bilder existieren sie nur, wenn eine wie auch immer geartete Aneignung stattfindet; darin unterscheiden sich Medienbilder grundsätzlich vom klassischen Kunstwerk, das auch im dunkelsten Museumsdepot existiert. Jens Kloppmann nimmt diesen Gedanken beim Wort und eignet sich die volatilen Medienbilder auf eine geradezu archaische Weise an.
In dieser ironischen aber auch liebevollen und im besten Sinne künstlerischen Aneignung steckt eine kluge und für den Künstler zentrale Metapher. Ohne Zweifel haben Bilder der Massenmedien im 20. Jahrhundert große Macht erlangt: zum Aufklären, zum Überwältigen aber auch zum Täuschen. Jens Kloppmann demonstriert immer wieder auf eine lakonische und zugleich erfrischend respektlose Weise, dass diese Macht von der Kunst letztlich nur geliehen ist.
1 Überschrift eines Artikels über den gestürzten und geflohenen tunesischen Diktator Ben Ali im Magazin DER SPIEGEL, Januar 2011
2 (zit. nach: Peter-André Alt, Franz Kafka. Der ewige Sohn. Eine Biographie, München
2008, S. 384f..
3 Roland Barthes, Die helle Kammer, Frankfurt/Main 1985, S. 66.
4 Fischli/Weiss, Findet mich das Glück?, Köln 200