Lorenz Engell - Bonn ist nicht Weimar. Zur Ortstafel-Aktion von Jens Kloppmann

1.

Kunstwerke im allgemeinen, meine Damen und Herren, und die Arbeiten Jens Kloppmanns im besonderen, haben viel mit unserem Vorstellungsvermögen zu tun, ja, sie Spielen sich zu einem guten Teil überhaupt in unserer Vorstellung ab. Und so stellen wir einmal vor, wie der ortsunkundige Besucher in Gelmeroda von der Autobahn abbiegt; wie er sich, schon leicht desorientiert, durch die Baustelle tastet, um die Bundesstraße nach Weimar überhaupt zu finden. Hat er sie gefunden, dann ruft ihm ein großes Plakat zu:“ Halt !! Sie fahren in die falsche Richtung! „; direkt daneben aber ein zweites “ Sie fahren in die richtige Richtung! “ Ja, was denn nun? Da unser ortsunkundiger Besucher aber wegen seiner Verunsicherung langsam fährt, schafft er es noch, die Plakate als Reklametafeln des Beherbergungsgewerbes zu identifizieren. Dann aber rollt er den Berg hinab, durch Gelmeroda hindurch, bis nach Weimar, wo ihn seit heute vormittag eine Ortstafel mit der Bezeichnung “ Bonn “ in Empfang nimmt. Ist er wirklich in die falsche Richtung gefahren? Gibt es vielleicht ein Bonn in Thüringen, so wie es ein Weimar in Hessen gibt? Oder war da irgend etwas besonderes mit Bonn und Weimar? Wird er je in dem Weimar, das er aufsuchen wollte, ankommen? Welche plötzliche Verlorenheit in Raum und Zeit – und wir wissen, daß auf der anderen Seite, in Bonn am Rhein, zur gleichen Zeit die gleich Irritation auf vorgestellte Besucher einwirkt; genau dasselbe geschieht noch einmal.

Nun ist die Verunsicherung des einfältigen Touristen zwar ein netter, aber doch irgendwie ein recht billiger und beschränkter Gag und irgendwie gemein obendrein. Wäre Jens Kloppmanns Ortstafelaktion nicht viel mehr als das, dann hätte eine fremdenverkehrsabhängige Stadt, wie Weimar, deren Humor seine Grenzen hat, die Aktion gewiß nicht zugelassen.
Aber es geht um sehr viel mehr; die Irritation ist ja hier nur ein Einfallstor, durch das ein ganz gezielter, punktueller, gleichsam operativer Eingriff in unser Orientierungsvermögen überhaupt vorgenommen wird; und zwar als geschichtliche Intervention, als topographische Intervention und als Intervention in unserem Begriffs- und Identitätshaushalt.

2.

Um diese drei Dimensionen der Ortstafelaktion anzusprechen, die Geschichte, die Topografie und die Identität, muß ich ein wenig ausholen und noch einmal auf die Irritation, den Beginn allen Erstaunens, zurückkommen. Kunst, so kann man nachlesen, soll bekanntlich irritieren, soll ungewohnt und fremd wirken. Die Kunst soll, wenn man den Schriften über Kunst glauben will, überhaupt sehr viel, zu viel. Sie soll, je nach Standpunkt, gefallen oder empören, schön oder häßlich wirken. Sie soll eine bessere, aber verlorene Wirklichkeit in Erinnerung rufen oder ihre Zukunft vorrausspiegeln. Sie soll die Widersprüche zum Ausdruck oder aber zur endlichen Versöhnung bringen und damit die dialektische Entwicklung entweder befeuern oder schlußendlich befrieden. Sie soll Probleme lösen, aufzeigen, daß alles ganz anders sein könnte, soll der amtlichen Realität eine zweite, eben künstlerische oder künstliche, zu Seite stellen. Die arme Kunst.

Jens Kloppmanns Arbeiten, und im besonderen die Ortstafelaktion, entzieht sich solchen gutmeinenden Aufgabenstellungen. Sie stellt der Realität nichts entgegen, sie stellt keine andere Realität vor. Sie arbeitet vielmehr im Medium der Wirklichkeit selbst. Die Dimension des Vorstellbaren, des Möglichen, oder, wie wir heute gern sagen, des Virtuellen, wird in die Wirklichkeit selber eingezogen. Am Ort des ästhetischen Eingriffs wird die Wirklichkeit selbst virtuell, wird in ihrem Status unsicher, wir selbst zur möglichen Alternative. Die Perspektive, alles könnte auch anders sein, wird so nicht mehr in den stets hermetisierenden Dunstkreis der Museen, Galerien und Ausstellungen zugewiesen, sondern dem alltäglichen Erfahrungsraum zurückerstattet, findet also genau da statt, wo wir die Wirklichkeit anzutreffen gewohnt sind.

Dies, die Ineinssetzung von alternativer Vorstellung und konkret erfahrener Alltagswirklichkeit, gelingt Jens Kloppmann, indem er zwei ästhetische Ansätze zusammendenkt, mit denen er sich intensiv auseinandergesetzt hat. Da ist zum einen der Konzeptansatz – für Kloppmann sind etwas Künstler wie On Kawara und Timm Ulrichs wichtig -, für den das zum sichtbaren Kunstwerk Hinzuzudenkende das Entscheidende ist, so daß sich der ästhetische Vorgang im Kopf des Betrachters abspielt; und zum anderen der Ansatz der Aktionskunst,, den etwas Fluxus und Happening entwickelt haben und der die Arbeit an und in Zonen der Alltäglichkeit und die Strategie des befremdenden Vorkommnisses entwickelt hat.

Beiden stellt Kloppmann aber auch etwas entgegen, nämlich sein Prinzip der minimalen Differenz oder der kleinen Schritte. Seine Eingriffe treten nicht mit Aplomb als das große Befremden auf, schrill als Knalleffekt, als das ganz und gar Andere, sondern ganz diskret, als der gewisse kleine Unterschied, als das fast ganz Gewöhnliche und daher in seiner Gleichartigkeit zum Normalen umso Bestürzendere. Nicht die maximale, sondern die minimale Differenz zwischen den Alternativen loten Kloppmanns Arbeiten aus; und umso erfolgreicher gelingt es ihnen, die wirkliche Wirklichkeit auf den Status des Irrealen, des Kontingenten oder des bloß Virtuellen herabzudrücken.

3.

Was aber heißt das im fall der Ortstafelaktion konkret? Die Aktion bewegt sich unzweifelhaft in einer historischen Dimension. “ Bonn ist nicht Weimar „, diese trotzige negative Selbstbestimmung, die angeblich auf den Publizisten Fritz René Allemann zurückgehen soll, ohne das die genaue Quelle noch erschließbar wäre, ist im Lauf der Jahrzehnte zu einem Leitsatz der politischen Rhetorik aufgerückt und stand immer für die doppelte Identität der Deutschen und ihr jeweiliges Verhältnis zur deutschen Geschichte. Für die einen war Bonn, metonymisch für die alte Bundesrepublik, ein völliger Neubeginn mit der bürgerlich-parlamentarischen Demokratie westlicher Prägung, der die Lehren aus der Katastrophe von Weimar gezogen hatte. Zur Rhetorik der DDR dagegen gehörte es, Bonn eben als zweites Weimar zu entlarven, d.h. als eine zutiefst instabile, untergangsgeweihte Gesellschaft, die auf Ungerechtigkeit und folglich sozialen Unfrieden aufgebaut war, zu autoritären, rechtslastigen Problemlösungen neigte, Klassenjustiz praktizierte und daher als präfaschistisch einzustufen war. So konnte begründet werden, daß die DDR ständig einer heraufziehenden Bedrohung ausgesetzt war. Nicht zufällig erhielt Weimar im alten Postleitzahlensystem die gleiche Postleitzahl wie Bonn. An diese tradierte Frontstellung und Gleichsetzung knüpft die Ortstafelaktion an.

Das Bonner System entpuppte sich, wie wir wissen, tatsächlich als finale Bedrohung für die DDR, aber es ist bislang weder zum Faschismus umgeschlagen, noch sonstwie übermäßig instabil geworden. Trotzdem ist die Bonner Republik alten Zuschnitts heute Vergangenheit, und der Umzug der Regierung nach Berlin bringt dies auch folgerichtig zum Ausdruck. Die Frage, ob Bonn nun Weimar ist, oder nicht, ist nicht mehr akut; was würde es für einen Unterschied machen? Die doppelte Identität der Deutschen kann sich heute nicht mehr an Institutionen und politische Metonyien binden; sie weicht ja daher auch aus in alltagskulturelle Bereiche; aber das ist ein anderes Thema.

Und genau dies, den Verlust der tradierten politischen Geographie, der politischen Identifikationsmuster und der gewohnten historischen Sinngebung, spricht die Ortstafelaktion an. Seiner politischen Funktion so gut wie ledig, kann Bonn in Zukunft auch genausogut Weimar gewesen sein. Diese virtuelle Beliebigkeit ist es, die die Ortstafelaktion überhaupt erst ermöglicht und die heute einen Teil unserer allgemeinen Irritation in Deutschland ausmacht, auch dann, wenn wir gerade nicht über die B9 nach Bonn oder über die B85 nach Weimar hineinfahren.

4.

Damit kommen wir zu dem topographischen Aspekt der Aktion. Denn Bonn und Weimar sind nicht irgendwelche Orte, sondern sie sind besonders markante Eintragungen auf der mentalen Landkarte nicht nur der Deutschen. Es sind Namen, Begriffe. Dabei ist bei näherem Hinsehen erstaunlich, wie sehr sich beide doch gleichen. Beide sind bis zum Zweiten Weltkrieg traditionelle Pensionärs- und Bildungsstädte gewesen, denen wohlhabende Ruheständler und Akademisches gehabe ihr soziales und ein umfangreicher Villenbestand aus Gründerzeit und Jahrhundertwende, um eine Altstadt aus dem 18. Jhdt. Herumgezogen, ihr architektonisches Gepräge gab. Beiden ist eine tiefe Provinzialität zu eigen. Das Bonn fünfmal so groß ist, verdankt es dem riesigen Regierungsapparat und den ausgedehnten Eigenheimwüsten, in denen seine Angestellten leben und die nunmehr nach und nach verwaisen werden; den zutiefst kleinstädtischen Charakter Bonns haben sie niemals überlagern können.

Bonn und Weimar sind aber auch sehr verschieden; sie liegen 400 Kilometer auseinander; der Rhein ist nicht die Ilm und Thüringen ist bei aller Sympathie nicht das Rheinland. Wo nun ist man eigentlich gelandet? Wo ist jetzt Ost, wo West? Der topographische Widerspruch, den Wir gegen die ästhetische Gleichsetzung beider Orte einlegen müssen, führt auf die Frage, wie wir uns überhaupt in Beziehung zu Orten setzen und Orte in Beziehung zueinander. Warum ist es eigentlich wichtig, wo man jetzt ist? Sind die Orte bloße Namen, oder sind sie wesenhaft, haben sie Charakter, Substanzen?

Diese Fragen sind erheblicher, als man vielleicht zunächst glaubt. Sie haben einen ganzen Wissenschaftszweig hervorgebracht, die Toponomastik, die Lehre von den Ortsnamen. Und, was hier wichtiger ist, sie beschäftigen Kunst und Literatur der Moderne schon lange. Gertrude Stein etwa, stets mit der Genese des amerikanischen Charakters befaßt, hat einen ganzen Roman über die geographische Geschichte Amerikas geschrieben. Marcel Proust nennt einen umfangreichen Teil Seiner Suche nach der verlorenen Zeit “ Les noms des pays „, die Ortsnamen, und läßt seine Figuren obsessiv die Namen der Orte diskutieren. Die Frage ist, ob die Ortsnamen eine tiefe innerer, motivierte Beziehung zu den Orten, die sie bezeichnen, unterhalten, oder ob sie rein willkürliche, lediglich durch den langen Gebrauch umgeformte und eingeschliffene Oberflächenbezeichnungen sind. Vierzig Jahre reichen da gewiß nicht aus, das zeigt sich z.B. an Chemnitz. Und so bewegt auch die Ortstafelaktion weit mehr als nur ein Spiel mit Name; die Namen sind Begriffe und die Begriffe Orte; zwar nicht im realem Raum, sondern im mentalen; auf unserer inneren Landkarte sozusagen.

Diese mentale Landkarte; auf der alles seine Ordnung hat, wird mit dem Ortstafeltausch plötzlich ganz neu und ganz anders gefaltet und geknickt. Sie wird dadurch zu einer anderen Karte. Man muß gar nicht Borges´großartige Konstruktion vom Territorium und der Karte bemühen um einzusehen, daß die Erfahrung des uns umgebendenden realen Raums von der Vorstellung geprägt ist, die wir im voraus – etwa durch Karte und Plan – von diesem Raum entwickeln. Durch die anders gefaltete Karte, in der auf einmal Bonn und Weimar übereinanderliegen, entsteht ein anderes Raumgefüge, das uns wenigstens für einen Augenblick eine Umorientierung abverlangt, ehe wir zu den bewährten Raumerfahrungen zurückkehren. Ähnlich hat etwa auch der berühmte vertikale Erdkilometer desorientierenden und re-orientierenden Charakter; und auch er funktioniert durch ein umdrehen oder Umfallen einer mentalen Karte. Die Karte wird gefaltet, der Raum wird plissiert.

So arbeitet Jens Kloppmann in der Ortstafelaktion nicht nur im öffentlichen Raum – das ist en vogue und wird gerade von der jüngeren Generation derzeit recht häufig gemacht -, sondern an diesem Raum selbst, an unserer Vorstellung der Konsistenz von Raum, von der Identität der Punkte im Raum.

5.

Und nicht nur an der Identität der Punkte im Raum und der Namen. Vielmehr geht es sogar um die Aufsplitterung von Identität selbst als einem weittragenden kulturellen Prozeß, an dem wir teilhaben, ob wir wollen, oder nicht, also um einen Orientierungsverlust. Die Tafel bezeichnet einen Ort; dieser Ort ist hier und nicht anderswo. Bonn ist aber anderswo als Weimar. So wie, auf welcher Ebene auch immer, Bonn und Weimar sich dadurch definieren, daß sie einander ausschließen, so verfahren im Grunde all unsere Definitionen und Begriffe. Alles, was wir bezeichnen und benennen können, gewinnen wir dadurch, daß wir genau das meinen und nichts anderes. Alles andere wird ausgeschlossen. Genau deshalb aber schleppt jeder Name, jeder Begriff und jede Definition dieses Ausgeschlossene, daß es zu seiner Identität benötigt, wie einen Schatten mit sich herum. Was auch immer ich sage, das Gegenteil schwingt immer mit, wird ebenfalls mitgeführt. So wie eben Bonn und Weimar sich gegenseitig vierzig Jahre lang im jeweiligen Schatten mitgeführt haben.

Jetzt aber ist die Grenze zwischen Licht und Schatten immer schwerer auszumachen. Im Zeitalter der Telekommunikation können wir hier sein und irgendwie – nämlich virtuell – zugleich auch woanders. Wir können etwas tun und etwas gegenteiliges auch. Bonn ist und ist nicht Weimar. Die gefestigten Ausschlüsse, das verläßliche System des Entweder-Oder, unsere gewohnten Identitäten haben begonnen, vielschichtigen Wechselspielen des Realen und des Virtuellen mitten in unserem Alltag Platz zu machen. Nichts ist das, was es war; schlimmer, nichts ist das, was es ist, nichts bedeutet, was es bedeutet.

Das würde dann allerdings auch für die Kunstaktion und, wie furchtbar, ihre Kommentierung gelten. So ist zu Jens Kloppmanns Ortstafelaktion natürlich,auch ein ganz anderer Kommentar nicht nur möglich, sondern erforderlich, ein zweiter, ein virtueller, sozusagen – von hier aus gesehen – ein Bonner Kommentar. Den aber muß ein anderer liefern.